Von Walen, KI, Populisten und Nachhaltigkeit

Ausdruck von Herman Melvilles "Moby Dick" auf der re:publica 2019
Foto: Jan Michalko / re:publica (CC 2.0 BY-SA)

tl;dr – die 13. re:publica widmete sich „dem Kleingedruckten“

PolitikerInnen unterschiedlicher Parteien sind seit Jahren auf der re:publica anzutreffen. Wie bei Katholiken- und Kirchentagen suchen sie Kontakt „zum Volk“, wenngleich es hier wie dort jeweils andere PolitikerInnen sind. Aber dass nun der Bundespräsident eine Eröffnungsrede hält, ist doch ein Novum. Ist die re:publica, die größte deutsche Konferenz zu Netzpolitik und Digitalität – „manche sagen Festival“, so die Macher auf ihrer Website – im 13. Jahr ihres Bestehens also richtig erwachsen geworden, staatstragend gar?

In einer mit starkem Applaus bedachten Rede forderte Bundespräsident Steinmeier, Dichotomien wie Online – Offline zu überwinden, denn „Demokratie kann künftig nur gelingen, wenn sie auch digital gelingt“. Ausdrücklich lobte er das Motto der re:publica, denn eine demokratische Gesellschaft kann nicht mit Verkürzungen arbeiten, sondern braucht eine Debattenkultur. Gerade angesichts der „Scheinriesen“, die in sozialen Netzen toben, dankte er allen, die sich dafür einsetzen, diesen nicht die politischen Räume im Netz zu überlassen. In diesen Dank bezog er auch alle ein, die helfen, die notwendige Medienkompetenz zu vermitteln.

Markus Beckedahl, Mitgründer der re:publica, hielt in seinem jährlichen Rückblick unter dem Titel „tl;dr – Digital war mal besser“ dagegen, dass sehr wohl auch die Demokratie weiter digitalisiert werden müsse. Allerdings müsse auch die Digitalisierung demokratisiert werden, wozu in etlichen netzpolitischen Themenfeldern aber noch reichlich Handlungsbedarf bestehe. Sein Überblick über laufende „Baustellen“ reichte vom Urheberrecht über den Datenschutz, Open Data und Staatstrojaner bis hin zu elektronischer Akte und Digitalpakt.

Jenseits von Utopien und Dystopien

Überhaupt klang in etlichen Beiträgen eine tendenziell pessimistische Grundstimmung durch: so, wie es jetzt ist, hatten wir uns das Netz und die Digitalisierung nicht vorgestellt! Bernhard Pörksen, Kommunikationswissenschaftler aus Tübingen, forderte daher, vom Netzpessimismus und von Dystopien Abschied zu nehmen. Stattdessen müssten wir die Transformation der Gesellschaft in Angriff nehmen: „Wir müssen von der Wissensgesellschaft zu einer redaktionellen Gesellschaft werden, indem die Ideale des guten Journalismus zu einer allgemeinen Maxime werden.“ Dazu gehöre das Zuhören, das Prüfen der Argumente der Gegenseite, eine gesunde Skepsis – und etliches mehr. Die Forderung nach einem entsprechenden Schulfach, das einen Beitrag zur Medienmündigkeit liefert und in dem wir darüber reflektieren, dass Medien das zentrale Instrument zum Verständnis der Welt sind, ist allerdings nicht ganz originell von ihm. Solche Forderungen werden von der Initiative Keine Bildung Ohne Medien und anderen Akteuren seit mehr als zehn Jahren formuliert.

Apropos Bildung: Die fand in einem eigenen Gebäude, dem Kühlhaus, unmittelbar neben dem Station-Gelände, unter dem Titel re:learn statt. Neben kurzen Vorträgen waren es vor allem Workshops zu konkreten Fragen, die dort Zuspruch fanden. Im gleichen Gebäude verzeichnete die Tincon, die vor vier Jahren von Johnny und Tanja Haeusler gegründete „junge re:publica“, mit über 2.000 Teilnehmenden in diesem Jahr einen Besucherrekord. Neben getrennten Eingängen für Erwachsene und Kids gab es dabei auch Etagen, die mit „U21“ beschildert waren – die nachwachsende Generation sollte auch hier in ihren Anliegen und Interessen wahr und ernst genommen werden.

Too long, didn’t read

Für das Motto der #rp19, Internetslang für in Text, auf den man sich in einer Antwort bezieht, der aufgrund der Länge aber nicht vollständig gelesen wurde, gab es neben dem sehr breit aufgestellten und umfangreichen Programm auch sehr hübsche und sinnfällige Umsetzungen. Das häufigste Fotomotiv dieses Jahr dürfte der 450 Meter lange Ausdruck von Herman Melvilles Moby Dick gewesen sein, vermutlich gefolgt von #astroalex Alexander Gerst.

Passend zu ersterem gab es einen Lesewettbewerb, wer am längsten fehlerfrei aus dem Buch vorlesen kann – der Gewinner hatte am Ende über 48 Minuten geschafft. Alexander Gerst bestritt gemeinsam mit Jan Wörner von der European Space Agency (ESA) einen Talk, der zwischendurch deutliche Nähen zu „Frag die Maus“ aufwies. An dessen Ende ließ er sich auf ein Selfie mit allen Teilnehmenden ein. Die Bedingung dafür: alle versprechen, am 26. Mai wählen zu gehen, um den Populisten bei der Europawahl keine Chance zu geben. Keine Frage – lautstarker Applaus!

Überhaupt war diese Forderung in den drei Tagen immer wieder zu hören, bis hin zum „Powerpoint-Karaoke“ im Rahmen der Closing Ceremony. Dabei stellte Markus Beckedahl im Schnelldurchlauf die (überwiegend) „wichtigsten“ Kennziffern zur #rp19 vor. Untere anderem: ein Tag, an dem ihr alle wählen gehen solltet – 26. Mai 2019! Und das ist auch nur konsequent, denn eine digitale Gesellschaft ist zwangsläufig eine offene und vielfältige Gesellschaft. Und die ist mit den verkürzten Antworten der Populisten nicht zu gestalten.

Netzgemeindefest im Rahmen der rp19
Foto: Andreas Büsch / Clearingstelle Medienkompetenz

Dass auch die Kirchen daran teilhaben und teilgeben wollen, wurde im diesjährigen Programm der re:publica leider weniger deutlich als in früheren Jahren. Dabei war die Frage nach Werten und normativen Grundlagen z.B. für Debatten zur Künstlichen Intelligenz ein durchgängiges Thema aller Sessions dazu. Insofern es durchaus Vorschläge für Sessions seitens Beteiligter aus den großen Kirchen gab, bleibt da noch „Luft nach oben“. Das Netzgemeindefest, ein Treffen „für gläubige Nerds aller Konfessionen und Religionen“ – so die Veranstalter in ihrer Beschreibung – fand allerdings zum dritten Mal statt und bot Gelegenheit zum Wiedersehen und Kennenlernen. Der thematische Austausch in Kleingruppen war so intensiv, dass die weiteren Gespräche aus der Meetup-Area heraus verlagert werden mussten, um dem nächsten Angebot Platz zu machen.

Quo vadis, re:publica?

Auch wenn der Bundespräsident bei der Eröffnung betonte, er sei nicht wegen der Etikette, sondern wegen der gemeinsamen Anliegen gekommen, ist dies doch ein deutliches Zeichen, dass die re:publica etabliert und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Eine der spürbaren Folgen ist, dass es von Jahr zu Jahr voller wird. Immer mehr Sessions sind überlaufen: Halle voll, interessierte Teilnehmende draußen. So zum Beispiel beim Live-Talk von Markus Beckedahl mit Axel Voss, Chefverhandler für die umstrittene EU-Urheberrechtsreform, der sich bewusst in die „Höhle der Löwen“ voller Kritiker der Urheberrechtsreform begeben hatte.

Daher war eine deutliche Gegenmaßnahme gegen die Überfüllung die Erweiterung der Fläche über die Station Lounge am Berliner Gleisdreieck hinaus. 10 Hektar Gelände mit zwei weiteren Bühnen waren in diesem Jahr hinzugekommen. Außerdem gab es vorab schon eingeplante Livestreams zu anderen Bühnen. Dennoch war die Station Lounge mit fast 20.000 BesucherInnen pro Tag spürbar an der Kapazitätsgrenze.

Eine zweite spannende Frage zur Zukunft der re:publica ist die der thematischen Breite. Wenn Digitalisierung alle Bereich der Gesellschaft betrifft, ist theoretisch eine unbegrenzte Zahl von Facetten und Aspekten zu behandeln. Immerhin mussten für dieses Jahr aus 1228 Einreichungen diejenigen 615 ausgesucht werden, die letztlich das Programm ausmachten. Wie kann es gelingen, unter einem Motto in mittlerweile acht thematischen Tracks einen roten Faden zu schaffen? Und nicht in Beliebigkeit zu enden? Das bleibt eine spannende Herausforderung. Vom 6. bis 8. Mai 2020 können wir schauen, wie das Programmteam diese Aufgabe wieder gemeistert haben wird. Ab 15. Oktober 2019 sollen dazu Einreichungen möglich sein.

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