Sexualisierte Gewalt ist im Fernsehen und Streaming kein Nischenthema. Zu diesem Schluss kommt das Kuratorium der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), das sich zum jährlichen Treffen am 26. und 27. Oktober 2023 schwerpunktmäßig mit Darstellungsformen und Wirkungen von sexualisierter Gewalt befasste.
Bilder von sexualisierten Verbrechen kommen in Filmen und Serien häufig vor. Dabei blenden sie die Perspektive der (meist weiblichen) Opfer oftmals aus, sagte Prof. Dr. Christine Linke von der Hochschule Wismar unter Rückgriff auf eine Studie zu geschlechtsspezifischer Gewalt aus dem Jahr 2021. Potenzielle Gefahren für Kinder und Jugendliche liegen in einer Heroisierung der Täterschaft, einer Normalisierung der Taten sowie einer damit verbundenen Banalisierung des Leids der Opfer. Darstellungen, die Sexualität mit Gewalt verknüpfen und dies ästhetisieren, können Ängste schüren und die Empathie mit den Opfern verringern, so Linke. Dagegen helfe ein kritisches Framing dabei, die Gewalt distanziert einzuordnen.
Kathrin Demmler, Direktorin des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, ergänzte die Perspektiven von Heranwachsenden aus verschiedenen Befragungen. Es sei zu vermuten, dass Kinder und Jugendliche bei Darstellungen von sexualisierter Gewalt noch nicht eindeutig zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Wesentlich für die Wirkung sei daher der einordnende Kontext, in dem eine Gewalthandlung stattfinde.
Keine neuen Prüfkriterien für sexualisierte Gewalt
Vor diesem Hintergrund brauche man keine neuen Kriterien oder gar Checklisten für die Bewertung sexualisierter Gewalt, sagte Dr. Stephan Dreyer, Senior-Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung und Vorsitzender des FSF-Kuratoriums. Die vorhandenen Bewertungskriterien der FSF berücksichtigten sowohl die Inszenierungsweise und Drastik als auch die kontextuelle Einbettung von Gewalt und würden damit auch bei Darstellungen von sexualisierter Gewalt greifen. Wesentlich sei aber, für das Thema zu sensibilisieren und Entscheidungsmaßstäbe zu schärfen.
Dr. Jens Förster, Sozialpsychologe und systemischer Therapeut, betonte die Gefahr der Re-Traumatisierung von Opfern durch Darstellungen von sexualisierter Gewalt. Da die Auslöser individuell unterschiedlich und oft nicht vorhersehbar seien, könne eine Re-Traumatisierung, also das starke emotionale Wiedererleben von traumatischen Ereignissen, bei audiovisuellen Darstellungen nicht vollständig vermieden werden. Bei typischen Traumatriggern, wie zum Beispiel bei Szenen von Eingesperrt-Sein oder sexueller Gewalt, seien Flashbacks allerdings wahrscheinlicher. Daher könnten Warnhinweise und Informationen zu Beratungsangeboten durchaus sinnvoll sein, so Förster.
Claudia Mikat, Geschäftsführerin der FSF, dankte dem Kuratorium für seine Begleitung der Prüfpraxis und für die Weiterentwicklung der Bewertungskriterien. Diese müssten auf aktuelle Problemlagen angewendet und ständig angepasst werden. Warnhinweise oder sogenannte Deskriptoren für Darstellungen von sexualisierter Gewalt seien im TV und online derzeit nicht erforderlich. Für die DVD-Auswertung seien diese Hinweise aber verpflichtend und würden von der FSF vergeben.
Für das Jahr 2024 hat das Kuratorium angekündigt, Hilfestellungen für die Prüfung zu entwickeln. Dabei geht es insbesondere um die Abgrenzung von Inhalten, die ab 12 oder 16 Jahren freigegeben werden. Handreichungen für Produktion und Redaktion sollen Inszenierungsweisen und Formen der Ästhetisierung von sexualisierter Gewalt beleuchten. Wie eine „gute Praxis“ in Bezug auf Darstellungen von sexualisierter Gewalt aussehen kann, wird Thema eines Beitrags des Kuratoriums in der Fachzeitschrift mediendiskurs sein.
Das Kuratorium der fsf
Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e.V. (FSF) ist die anerkannte Selbstkontrolleinrichtung privater Fernseh- und Telemedienanbieter. Sie bewertet AV-Inhalte unter Jugendschutzgesichtspunkten und vergibt Altersfreigaben. Mit Fachveranstaltungen, der Zeitschrift mediendiskurs und der Plattform Medienradar fördert sie den Diskurs über Medieninhalte und ‑wirkungen sowie über Fragen der Medienpolitik und ‑regulierung.
Der Leiter der Clearingstelle Medienkompetenz, Prof. Andreas Büsch, vertritt die Katholische Kirche im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz im Kuratorium der fsf.
Literatur
Linke, C./Kasdorf, R.: Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen. Kooperationsprojekt der Hochschule Wismar und der Universität Rostock 2021. Abrufbar unter: https://fg.hs-wismar.de
Linke, C./Kasdorf, R.: Audiovisuelle Repräsentation geschlechtsspezifischer Gewalt: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. In E. Grittmann, K. Müller, C. Peil, J. Pinseler (Hrsg.): Medien und Ungleichheiten (Trans-)nationale Perspektiven auf Geschlecht, Diversität und Identität. Magdeburg 2023: Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e. V., S. 1-12. Abrufbar unter: https://doi.org/10.21241/ssoar.86636
(Pressemitteilung der fsf vom 2.11.2023)