
Der Nachbar hatte ihr einen „lichthellen Advent“ gewünscht. Die bunte Lichterkette vom Imbiss gegenüber konnte er damit nicht gemeint haben. Stella hatte nur eine Kerze auf dem Balkon angezündet, die dort seit den letzten warmen Septembernächten stand. Dabei hatte sie das Bild ihrer Mutter vor Augen gehabt. Diese Hektik, wenn nicht rechtzeitig zum Ersten Advent alles geschmückt war! Entspannt hatte Stella sich auf ihre Couch fallen lassen. Der »Tatort« war längst vorbei. Das Telefon hatte ein paar Mal geklingelt, aber sie hatte keine Lust auf die Wocheninstruktionen ihrer Chefin. Gelangweilt zappte sie sich durchs Fernsehprogramm. Die Woche lag grau vor ihr. Drei Tage Büro, zwei Tage Homeoffice. Keine besondere Abendplanung. Und wenn es jetzt schon so spät war, würde sie morgen früh wieder kaum aus dem Bett kommen. Sie blieb bei einer Satiresendung hängen. So was hatte sie früher gern gesehen. In letzter Zeit allerdings war ihr das Lachen zu oft im Hals stecken geblieben.
Hätte sie Jahre später jemand nach dem Moment gefragt, der dann ihr Leben veränderte – sie hätte ihn »Sternstunde« genannt. Und dabei doch nicht erklären können, was genau geschehen war. Der Komiker im Fernsehen hatte irgendetwas davon gefaselt, dass der Advent alternativlos sei. Dann fuhr die Kamera ganz nah an ihn heran. Er drehte seinen Kopf und sah sie direkt an. Seine Augen schienen sie förmlich festzuhalten. Sie spürte, wie sich ihr Blick verengte – und hörte seinen nächsten Satz:
»Verschenk dich doch mal selbst.«
Stella traf es wie ein Blitz. Der flapsige Spruch leuchtete wie eine Feuerschrift vor ihren Augen. Sie wusste nicht, wie lange sie reglos dagesessen hatte. Ihr Blick fiel auf die kleine Figur auf der Kommode. Dann auf die Babyschuhe im Regal. Stella sprang auf, warf beides in ihre Umhängetasche, außerdem das Brillenetui und die Orgelpfeife, zog sich rasch ihre Schuhe an und verließ die Wohnung.
Die letzten Meter bis zu Martins Haus rannte Stella fast. Die Umhängetasche schlug ihr dabei im Rhythmus der eigenen Schritte immer wieder gegen die Hüfte. Fast war ihr, als spüre sie darin das Gewicht der kleinen Schachtel mit den Babyschuhen, die sowohl sie selbst als auch ihr Bruder getragen hatten, als sie ihre ersten Schritte ins Leben machten. Etliche Jahre war das nun her. Ein Überbleibsel ihrer Kindheit, das für Stella jedoch immer auch mit der Hoffnung verbunden gewesen war, eines Tages würde auch ihr eigenes Kind diese Schuhe tragen.
Es hatte ihr einen Stich versetzt, als ihr Bruder in der WhatsApp-Familiengruppe ein Ultraschallbild und dazu die Worte »Ich werde Vater!« gepostet hatte. Sie hatte gar nichts dagegen tun können und sich doch auch im selben Moment schon dafür geschämt, dass ihre erste Reaktion auf diese freudige Nachricht eben nicht nur Freude war. Würde ihr Bruder nun etwas bekommen, wovon sie bisher nur geträumt hatte? Sie hatte nicht gewusst, wie sie ihm das hätte erklären können, und so hatte sie geschwiegen. Ein paar Wochen lang. Bis heute.
Bevor Stella auf die Klingel drückte, hielt sie einen Moment inne, atmete durch. Es war Zeit loszulassen. Es gut sein zu lassen. Ihr Leben und seines. So wie es eben war.
Martin sah überrascht aus, als er seine Schwester erblickte. »Was machst du denn hier – so spät noch?«, fragte er. Stella räusperte sich, öffnete ihre Tasche und fischte die kleine Schachtel heraus. „Ich glaube, die hier könntest du bald brauchen“, sagte sie und lächelte zaghaft. „Ich freue mich für dich, das tue ich wirklich.“ Martin sah sie einen Augenblick einfach nur still an. Dann lächelte er, trat einen Schritt zur Seite und sagte: „Komm rein. Komm rein, Tante Stella.“
Iris Macke und Hanna Buiting, aus: Kalender „Der Andere Advent“ (2021), Andere Zeiten e.V. Hamburg, www.anderezeiten.de
Wir danken für die freundliche Genehmigung diesen Text zu verwenden. Der Text wird im Kalender an vier weiteren Tagen fortgesetzt.
Liebe Leserinnen und Leser,
ein wiederum alles andere als normales Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Wie vermutlich zu allen Zeiten gibt es große und kleine Sorgen, die uns ganz persönlich betreffen. Aber auch gesellschaftlich bzw. global stehen wir mit der nächsten Welle der Pandemie und einer absehbar drohenden globalen Umweltkatastrophe vielleicht wie nie zuvor an kritischen Wendepunkten für die gesamte Menschheit. Und in diese Zeit hinein gilt wie vor über 2000 Jahren die frohe Botschaft von Weihnachten: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh 1,14a) – Gott wird Mensch und begegnet uns damit als Medium, das wir erkennen können und müssen: im Anderen, im nahen und fernen Nächsten. Und das kann und muss Auswirkungen auf unser Leben haben; für eine gerechtere und friedvollere Welt.
Ich wünsche Euch und Ihnen im Namen des gesamten Teams der Clearingstelle Medienkompetenz eine gesegnete Weihnacht und ein gutes, friedvolles und gesundes Jahr 2022!
Prof. Andreas Büsch
Leiter der Clearingstelle Medienkompetenz
P.S.: Mit diesem Gruß verabschieden wir uns vom 20. Dezember 2021 bis 4. Januar 2022 in die Weihnachtspause.